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Konsumtempel I

Kunsthaus Tacheles, Berlin

© Werner Köhler 1991

Sind Kaufhäuser und Ladenpassagen Industriekultur? Im Prinzip ja, denn ohne industrielle Fertigung keine Massenware, und ohne Massenware kein Massenkonsum! Also sei auch diesem Aspekt der Industriekultur hier ein bescheidener Platz zur Verfügung gestellt. Schließlich geht es hier nicht um irgendein Kaufhaus, sondern um einen zu Weltruhm gelangten Vorläufer der heutigen Shopping-Malls, noch dazu mit einer äußerst wechselvollen Geschichte.

Die Friedrichstraßen-Passage an der Oranienburger/Friedrichstraße in Berlin wurde von 1907 bis 1909 in nur 15 Monaten errichtet. Bauherr war Otto Markiewicz, ein Berliner Unternehmer, der Unterstützung vom Kaiserlichen Baurat Franz Ahrens bekam. Ursprünglich als Zentrum der gehobenen Kultur geplant, wurde alsbald daraus ein Konsumtempel nach amerikanischem Vorbild. Ein Renommierprojekt, wie wir es auch aus heutiger Zeit kennen. Für deutsche Verhältnisse neu war die Idee, einzelne Läden in einer großen Hallenlandschaft unterzubringen. Im Zentrum der Anlage lag ein riesiger Kuppelbau. Ein Konzept, das immer noch funktioniert, wenn man sich etwa das Centro in Oberhausen als quasi moderne Variante ansieht.

Damals lief es jedoch gar nicht gut. Das Unternehmen ging pleite, die verbliebenen Mieter gründeten eine AG, und Wertheim mietete die Passage an, um dort ein Kaufhaus zu errichten. Dies ging 1914 ebenfalls in Konkurs und riss die AG gleich mit. Die Konkursmasse übernahm die Berliner Commerzbank. Von 1914 bis 1924 ist nichts über die Nutzung des Gebäudes bekannt. 1924 errichtete die AEG in den Räumen das „Haus der Technik“, verbunden mit Umbauten im Stil der „neuen Sachlichkeit“.

In den 1930er-Jahren zog die NSDAP dort ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte das Haus dem DDR-Gewerkschaftsbund FDGB. Außerdem gab es dort diverse Büro- und Geschäftsräume und ein Kino, das sich immerhin bis 1982 hielt. Obwohl das Gebäude während des Zweiten Weltkrieges nur mittelmäßig beschädigt wurde, sollte es auf Grund zweier Statikgutachten aus den Jahren 1969 und 1977 abgerissen werden, da es trotz intensiver Nutzung nie zu einer Sanierung gekommen war. Eine neue Straße sollte über das Gelände verlaufen und eine Abkürzung zwischen Oranienburger Straße und Friedrichstraße bilden.

Ob das aus massivem Stahlbeton errichtete Gebäude wirklich so baufällig war? Oder war der Straßenbau vielleicht wichtiger? Jedenfalls begannen 1980 die Abbrucharbeiten einschließlich Sprengung des Kuppelbaus. Lediglich der Teil an der Oranienburger Straße blieb stehen. Für April 1990 war die Sprengung vorgesehen. Im Februar 1990 wurde das Haus von Künstlern besetzt und „Kunsthaus Tacheles“ genannt. In buchstäblich letzter Minute konnte die Anerkennung als Denkmal erreicht werden. Sicherlich etwas, was nur im politischen Vakuum der Wendezeit möglich war. Auch die Statik wurde interessanterweise als sicher attestiert. 1998 kaufte ein Investor das Haus. Inzwischen fiel das Haus an die Nordbank, die es nach juristischen Auseinandersetzungen am 4. September 2012 räumen ließ. Somit kann dieses wohl einmalige Projekt als beendet angesehen werden; was nun aus dem Gebäude wird, ist ungewiss.

1991 sah es auf dem Platz hinter dem Haus noch etwas unaufgeräumt aus. Da mir das Puppenstuben-Ambiente gefiel, machte ich ein Foto. Eine Besichtigung war auch möglich, wenn auch auf eigene Gefahr. Inzwischen wurde die Rückwand mit großen Glasfenstern versehen, was Nutzwert und Sicherheit des Gebäudes deutlich erhöht haben dürfte. ;-)

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